Lehren der Weisheit und Tugend
in auserlesenen Fabeln, Erzählungen und Liedern.
Ein Buch für die Jugend.
herausgegeben von Dr. Fridrich Ludwig Wagner,
Großherzoglich hessischem Kirchen und Schulrath und Garnisonprediger zu Darmstadt.
Dreizente, einzig rechtmäßige Ausgabe.
Leipzig, bei Gerhard Fleischer. 1825
Inhalt
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Hier ab Seite 255
212. Die Tugend.
Die Ohren und die Herzen willig her,
Ihr Menschen! Euer Gott hat mich gelehrt,
Was Tugend ist. Ein Feuerfunke fiel
Von seinem Himmel, als mein Auge starr
Aufsah, den Gott der Tugend auszuspähn!
Und nun, was Tugend ist, das lehr´ ich euch,
Euch meine lieben Menschen:
Tugend ist:
Dem Nackenden von zwei Linnen eins
Um seine Blöße selbst ihm schmiegen, und
Von zwei Broten eins dem Hungrigen
Darreichen, und aus seimem Quell dem Mann,
Der frisches Wasser bittet, einen Trunk
Selbst schöpfen, floss´ er noch so tief im Thal.
Ihr, meine lieben Menschen, Tugend ist:
Dem Hülfsbedürftigen zuvor mit Gold
Und Weisheit kommen, seine Seele sehen,
Und seinen Kummer messen, und sich freun,
Das etwas Gold und etwa Weisheit ihn
Der Freude wiederbringen, und ihn nicht,
Wer seiner Kummers Ueberwinder war,
Erfahren lassen. Menschen, Tugend ist:
Und wenn die Bösen alle gegen euch
In ihrer Bosheit wütherten, und sich
Verschworen hätten alle gegen euch,
Von Menschenliebe nicht zum Menschenhaß
hinüber gehen, immer immer gut
Den Bösen sehn, dem undankbaren Mann
Krempel werden edler Dankbarkeit,
Und seines herzens Aenderung von Gott,
von welchem er der Arme! so weit
Auf glattem Wege schon verwiret war,
In einem brünstigen Gebet erflehn.
Ihr meine lieben Menschen, Tugend ist:
Wenn ihr in eure Herzen seht unf forscht:
Ist Gutes wenig oder viel darin?
Und, wenn nur wenig, wenn ihr euren Geist
Zu Gott erhebt, so lange, bis er euch
In eure Herzen lauter Getes schenkt.
Ihr, meine lieben Menschen, Tugend ist:
Wenn ihr die Herzen eurer Brüder gern
Von allem Bösen ab zum Guten lenkt,
Und wenn sie noch bei vielem Bösen sind,
Sie doch nicht haßt, und unermüdet sie
Von allem Bösen ab zum Guten lenkt.
Ihr, meine lieben Menschen, Tugend ist:
Dem Gotterschaffenen Erhalter sehn,
Lebendigen das Leben fristen, rohen Stoff
Umwenden, so daß er duch euern Fleiß
Einst Leben zu dem Leben bringen muß.
Ihr, meine lieben Menschen, Tugend ist:
Die Summe dieses Guten, welches Gott
In seiner Welt gelegt, an seinem Theil
Vermehren, wenn, und wo und wie sie nur
Vermehret werden kann! Vermehrest du
Die Summe dieses Guten, dann, o dann
Sey König oder Bettler, du gefällst
Den Geistern deines Gottes, die um dich
Und um dein Thun, wenn einsam du dich dünkst,
Unsichbar schweben, du gefällst, gefällst
Dem Schöpfer alles Guten, deinem Gott!
Ha! dem gefallen willst du nicht? du willst
Des Guten Summe nicht vermehren? willst
Des Bösen, welches Gott in seiner Welt
Zum Guten lenkt, Vermehrer seyn? Sey es!
Die Geister Gottes wenden ihren Blick
Hinweg von dir, Gott nicht! Allein, o weh!
Du wagst es künftig nicht, zu deinem Gott
Die Augen aufzuschlagen, denn du wirst
Des Bösen, welches Gott in seiner Welt
Zum Guten lenkt, dich schämen, wirst bereun,
Daß du dem Schöpfer alles Guten nicht
Gefallen wolltest! nicht mit deisem Geist
Und diesem Witz in deiner Seele, nicht
Mit diesen Kräften deines Leibes, die
Zur Thätigkeit und nicht zur Ruhe dir
Dein Schöpfer gab! Erwache, Schläfriger!
Aus deinem Schlaf, und spare diese Schaam
Und diese Reue deinem Wesen dort,
Wo alle Himmel deine Zeugen sind!
Und da dein Weg zu Ende geht, und ach!
Nund leider deines Geistes Federkraft
Für und verdarben ist, so heilige
Mit guten Werken lieber, als mit Witz,
Noch diesen Augenblick der Ewigkeit!